HOMO PLANTAE
Zeichnungen, Fotografien und Text (Text: Simona Koch und Nikolaus Gansterer) | seit 2012
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EIN AUTOTROPHES WESEN?
Auszug aus Jakob Preus: „Homo Plantae – Ein Autotrophes Wesen?“, De Gruyter (1974)
Der britische Tee- und Gewürzhändler John Hubberfield entdeckte Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer kleinen Insel in der Molukkischen See zufällig eine einzigartige Welt.
Viele Jahre später beschreib er diese Begebenheit in einem Brief an die Royal Society in London:
[ … ] „Wir waren durch anhaltende Westwinde und uns unbekannte Strömungen vom geplanten Kurs abgekommen. Aus Mangel an Trinkwasser mussten wir am 29. Oktober 1859 gezwungenermaßen eine kleine, in unseren Karten nicht verzeichnete Insel anzusteuern. [ … ]
Als ich mit einer Gruppe von Seemännern die stark zerklüftete Vulkaninsel betrat schien sie uns zuerst keine Besonderheiten aufzuweisen. Was für ein gottlos tropisch Eiland! Sie war ganz und gar von üppiger Vegetation überzogen. Erstaunlicherweise konnten wir keine Spuren von Säugetier oder gar Menschen entdecken. Die schwüle Luft der Insel war durchzogen vom Surren der Insekten und den schrillen Rufen uns unbekannter Vogelarten. Mit Macheten bahnten wir uns den Weg durch das fremde Dickicht des Dschungels, durch das wir nur sehr langsam und mit großen Anstrengungen vorankamen. Als die Nacht hereinbrach schlugen wir auf einer Lichtung unser Lager auf. [ … ]
An jenem Ort wurde ich ihrer dann erstmals gewahr – mir war als ob die üppige Natur ringsum von kleinen menschenähnlichen Wesen bevölkert war! Schemenhaft sah ich sie zwischen dem Blattwerk aufrecht stehend oder kauernd – sie schienen wie pflanzliche Fruchtkörper ganz und gar eins mit der Natur zu sein. [ … ] Zuerst hielt ich die nächtliche Entdeckung für Zeichen eines neuerlichen Fieberschubes und die Auswirkung meiner tiefen Erschöpfung der letzten kräftezehrenden Tage auf hoher See – doch meine Reisegefährten sahen sie ebenfalls. Und tatsächlich, am nächsten Morgen waren sie noch immer da – es war keine Halluzination gewesen! Und doch konnten wir nicht glauben was wir doch mit eigenen Augen sahen! [ … ] Weder ich, noch einer der Männer verspürte den Wunsch eines dieser seltsamen Wesen mitzunehmen – sie schienen ganz und gar mit ihrer Umgebung verbunden zu sein. Aus Sorge um diesen seltenen Naturschatz befahl ich meinen Reisegefährten absolutes Stillschweigen über die Entdeckung. Wir kehrten abends mit Trinkwasser und einigen Früchten zurück an Bord und segelten weiter gen Osten. [ … ]“
Wie sich aus seinen Tagebuchaufzeichnungen schließen lässt, war John Hubberfield völlig fasziniert von dieser andersartigen Welt. Diese Begeisterung sollte ihn bis ans Ende seiner Tage nicht mehr loslassen. Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien verbrachte er mehrere Jahre mit der Vorbereitung einer weiteren Expedition zur Erforschung der Pflanzenmenschen. Die Reise stand unter dem Vorwand der „Suche nach neuartigen Heil- und Gewürzpflanzen“ – doch er erzählte niemandem von dem wahren Grund seiner Reise. Durch die rasante Entwicklung der Mikroskopie und der Photographie erhoffte er das tatsächliche Wesen der seltsamen Inselbewohner erforschen zu können. Am 7. März 1866 war es schließlich soweit und er stach mit der Fairy Mary in See. Einige der Seeleute, die die bei der ersten Reise mit ihm gemeinsam die Pflanzenmenschen entdeckten, waren ebenfalls an Bord – Richard Adams, Thomas Taylor und ein Mann, den sie Brown nannten.
Tatsächlich fanden Sie die beeindruckende Insel, auf der ein hoher Vulkan in den Himmel empor ragte, wie Hubberfield in seinem Tagebuch vermerkte, der Krater von einem Kranz aus Wolken umhüllt. Sie ließen sich mit ihrer Ausrüstung an Land bringen und verbrachten einige Jahre mit der Erforschung der Wesen, denen Hubberfield den Namen homo plantae gab. Seinen Aufzeichnungen ist unser heutiges, rudimentäres Wissen über diese wundersame Spezies geschuldet.
Es wird vermutet, dass es sich beim homo plantae um eine Kreuzung zwischen Pflanze und Mensch handelt. Man geht davon aus, dass eine Reihe von Symbiosen und Mutationen als Anpassung an äußere Lebensbedingungen schließlich zum Homo Plantae führten. Wenn Organismen in intensive symbiotische Beziehungen treten, kann es passieren, dass sie irgendwann Erbinformationen miteinander austauschen.
Durch das beständige und gleichzeitig weitgehend abgeschlossene Mikroklima der Insel – so Hubberfields Hypothese – hat sich eine einzigartige Flora und Fauna entwickelt. Die völlige Abwesenheit von karnivoren Lebewesen ermöglichte ein hoch spezialisiertes Biotop in dem ungeschützte Pflanzen und Tiere beheimatet sind – ohne Panzer, Zähne, Stacheln – die sich zumeist autotroph ernähren.
Hubberfield beschreibt die homo plantae und ihre Umwelt in seinen Aufzeichnungen wie folgt (Die hier abgedruckten Passagen sind Auszüge aus John Hubberfields Notizen und Aufzeichnung, die man Anfang der 1950er Jahre in seinem Nachlass im Archiv der Royal Society wiederentdeckte, und die von Jakob Preuss 1974 in Homo Plantae – Ein Autotrophes Wesen? wissenschaftlich aufgearbeitet wurden.):
[ … ] Äußerlich betrachtet hat der homo plantae die Basismerkmale des homo sapiens – Kopf, Rumpf, Arme und Beine, ist jedoch insgesamt von kleinerer Statur. Seine Haut ist transparent, grünlich schimmernd und erinnert entfernt an Wasserpflanzen. Sie ermöglicht ihm, sich in eine Art Tarnmodus zu begeben um optisch mit der Umgebung zu verschmelzen. Hierbei scheinen die Hautzellen auf ihrer Oberfläche gar das Abbild der Umgebung reflektieren zu können. [ … ]
[ … ] Stomatas, winzige Schliesszellen auf seiner Haut, werden – ähnlich denen der Pflanzen zum Austausch von Gasen geöffnet und geschlossen. Durch die leichte Transparenz der Haut konnte ich auch ganz ohne Hilfe des Mikroskops in ihr Innerstes blicken. Im unteren Drittel des Bauchraums befindet sich bei den Weibchen ein Art Fruchthöhle – bei den Männchen dementsprechend die Samenhöhle. Die, wie mir scheint, stark rückgebildeten inneren Organe liegen oberhalb der Geschlechtshöhlen. In der Körpermitte schlägt ein Herz, das weitaus kleiner ist als das unsrige. Es unterstützt die Versorgung des Organismus mit dem wässrigen Fluidum von Nährstoffen aus dem Erdreich. Angepasst an die Tag- und Nachtphasen, die Wach- und Ruhephasen schlägt es im körpereigenen Rhythmus. [ … ]
[ … ] Der homo plantae verfügt über ein feinädriges Wurzelwerk, das direkt seinen Fuß, Bein- und Handregionen entspringt, und sich im Boden verankern kann. Die kleinen Entgiftungsorgane, Nieren- und Leberartige Organe filtern und reinigen die über die Flüssigkeit aufgenommen Nährstoffe und führen unverwertbares über spezielle Stomatas der Haut zur Ausscheidung. Die Schwimmkörper – zu denen sich, wie ich vermute, die früheren Lungen hin entwickelt haben müssen, ermöglichen es dem homo plantae im Wasser zu sinken und aufzusteigen – außerdem werden sie zur Aufnahme von Wasser und zur Filterung von Nährstoffen aus dem Wasser gebraucht. [ … ]
[ … ] Auch der homo plantae kommuniziert, wie seine Verwandten, die Pflanzen, über Duftstoffe und über sein Wurzelwerk. Außerdem scheint er über eine Art telepathisches Netzwerk mit seinen Artgenossen verbunden zu sein. [ … ]
Er vermag seltsam hohe Laute und Gesänge über Mund, Zunge und Stimmbänder in seinem Rachenraum zu erzeugen … mir scheint jedoch, dass er sich zum Sprechen jenes telepathischen Netzwerks bedient. [ … ] Seine Wahrnehmung verläuft wie ich vermute, nicht über Augen, Ohren, Nase, Geschmack oder Tastsinn – vielmehr scheint er mir über die Grenzen seines Zellverbandes hinaus mit der Umwelt verbunden zu sein. [ … ]
[ … ] Heute Nacht ist nun auch Adams dem Fieber zum Opfer gefallen. Nun bin ich der einzige homo sapiens dieser Insel. Es wird Zeit, zurückzukehren. Die Welt muss von diesem Ort erfahren und ihn schützen – diesen Wesen darf kein Leid geschehen! [ … ]
[ … ] Es gelang mir nie in direkten Kontakt mit ihnen zu treten oder mit ihnen über Sprache und Gesten zu kommunizieren. Der einzige Weg war, in ihrer unmittelbarer Nähe zu schlafen und auf ihre rhythmischen Laute im Halbschlaf zu lauschen. In luziden Traumerlebnissen schien sich mir ihr ureigenes vegetabiles in der Welt-sein langsam zu eröffnen [ … ]
[ … ] Die Individuen erreichen ein Durchschnittsalter von schätzungsweise 35 Jahren. Dann konnte ich beobachten wie die Alten sich allmählich veränderten. Innerhalb weniger Wochen ging die Transparenz ihrer Haut verloren und sie begannen zu „verholzten“ – ihre Hautoberfläche, erschien mehr und mehr rindengleich. Die Gliedmaßen und das Wurzelwerk glichen dem von luftwurzeligen Baumarten. Mit fortschreitendem Alterungsprozess wurde ihre Ähnlichkeit mit dem homo sapiens immer geringer, und sie begannen völlig Eins zu werden, mit der pflanzlichen Welt der Insel. [ … ]
Wieder zurück in England wollte Hubberfield, von der absoluten Schutzwürdigkeit der seltsamen Pflanzenmenschen überzeugt, seine Forschungen an die Öffentlichkeit bringen und für ein königliches Protektorat ihres Lebensraums zu kämpfen. Er bereitete sich akribisch auf die Veröffentlichung seiner Forschungen vor, unterhielt regen Austausch mit Biologen und Medizinern, die durchaus Interesse an Hubberfields fantastischen Erzählungen zeigten. Charles Darwin etwa schrieb in einem Brief an Hubberfield im Jahre 1877: „Mein Lieber Hubberfield, sollte es wirklich wahr sein, dass Sie eine solch kühne Vermischung der Arten beobachten konnten? [ … ]“
Doch im Februar 1879, einige Wochen bevor er in London seine Forschungen der Wissenschaftsgesellschaft präsentieren wollte, wurde John Hubberfield von einer Droschke überrollt und verstarb kurz darauf an den schweren Verletzungen. Keiner der Männer, die ihn bei seinen Forschungen auf der Insel unterstützt hatten war lebend zurück gekehrt. So geriet John Hubberfield in Vergessenheit, und mit ihm die Aufzeichnungen, Messergebnisse, Fotografien und Zeichnungen des homo plantae.
Der einzige weitere Bericht über die von Hubberfield beschriebene Insel stammt vom Joachim Preuss, Leutnant eines deutschen Unterseebootes, das dort 1943 landete. Preuss berichtet ebenfalls von einer autotrophen Welt mit fremdartigen Tieren und Pflanzen. In einer verfallen Hütte, die wohl John Hubberfield gehört hatte fand er Notizen und Zeichnungen die dieser zurück gelassen hatte. Er selbst konnte keines der beschriebenen Wesen sehen, aber der Ort hatte eine magische Ausstrahlung auf ihn. [ … ]